Keine Befreiung von der Offenlegungspflicht für Drittstaaten-Töchter? Das OLG Köln zur analogen Anwendung der §§ 264, 264b HGB
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Wichtigste Erkenntnisse
- Das OLG Köln lehnt eine analoge Anwendung der Befreiungsvorschriften (§§ 264, 264b HGB) für Tochtergesellschaften ab, deren Mutterunternehmen in einem Drittstaat (Nicht-EU/EWR) sitzt.
 - Deutsche Tochtergesellschaften von Konzernen aus den USA, dem Vereinigten Königreich oder der Schweiz unterliegen der vollen deutschen Offenlegungspflicht nach § 325 HGB und können sich nicht auf die Einbeziehung in den Konzernabschluss der Mutter berufen.
 - Die Entscheidung basiert auf dem abschließenden Charakter der gesetzlichen Regelung und dem Vorrang des Unionsrechts (EU-Bilanzrichtlinie), der eine Erweiterung auf Drittstaaten verbietet.
 - Die unterschiedliche Behandlung ist sachlich gerechtfertigt und stellt keine unzulässige Diskriminierung dar, da innerhalb der EU/des EWR harmonisierte und als gleichwertig anerkannte Rechnungslegungsstandards existieren.
 
Inhaltsverzeichnis
- Die Offenlegungspflicht im HGB: Ein zentraler Pfeiler der Transparenz
 - Ausnahmen von der Regel: Die Befreiungstatbestände der §§ 264 Abs. 3 und 264b HGB
 - Der konkrete Fall vor dem OLG Köln: Eine US-Mutter im Fokus
 - Die Entscheidung des OLG Köln: Eine klare Absage an die Analogie
 - Praktische Folgen der Entscheidung und Ausblick
 
Das Handelsrecht ist ein dynamisches Feld, das Jurastudierende und junge Juristinnen und Juristen ständig vor neue Herausforderungen stellt. Eine besonders relevante Frage im internationalen Unternehmensrecht ist die Reichweite der deutschen Offenlegungspflichten. Ein aktueller Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Köln hat nun für erhebliche Klarheit gesorgt und eine vieldiskutierte Frage beantwortet: Gibt es eine Befreiung von der Offenlegungspflicht für Drittstaaten-Töchter? Das OLG Köln hat sich in seiner Entscheidung klar zur analogen Anwendung der §§ 264, 264b HGB positioniert und damit wichtige Leitplanken für international aufgestellte Konzerne gesetzt. Diese Entscheidung beleuchtet das komplexe Zusammenspiel von nationalem Recht, Unionsrecht und völkerrechtlichen Verträgen und ist daher ein Muss für alle, die sich mit dem Gesellschafts- und Bilanzrecht befassen. Für Dich als angehende:r Jurist:in ist es entscheidend, solche praxisrelevanten Urteile zu verstehen, um die rechtlichen Rahmenbedingungen für global agierende Unternehmen korrekt einschätzen zu können.
Die Offenlegungspflicht im HGB: Ein zentraler Pfeiler der Transparenz
Um die Tragweite der Entscheidung des OLG Köln vollständig zu erfassen, ist ein fundiertes Verständnis der Offenlegungspflicht unerlässlich. Diese Pflicht, die primär in § 325 des Handelsgesetzbuchs (HGB) verankert ist, bildet einen Grundpfeiler des deutschen Bilanz- und Gesellschaftsrechts. Sie verpflichtet Kapitalgesellschaften sowie bestimmte Personengesellschaften dazu, ihre Rechnungslegungsunterlagen, insbesondere den Jahresabschluss und den Lagebericht, beim Betreiber des Bundesanzeigers einzureichen. Diese Unterlagen werden dann veröffentlicht und sind für jedermann zugänglich. Der Zweck dieser umfassenden Transparenzpflicht ist vielschichtig. In erster Linie dient sie dem Schutz der Gläubigerinnen und Gläubiger. Indem sie Einblick in die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens erhalten, können sie dessen Kreditwürdigkeit besser beurteilen und fundierte Geschäftsentscheidungen treffen. Darüber hinaus fördert die Offenlegung die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes, da potenzielle Investorinnen, Investoren und Geschäftspartner:innen eine verlässliche Informationsgrundlage erhalten. Nicht zuletzt sorgt die Publizität für eine gewisse Disziplinierung der Unternehmensleitung und stärkt das Vertrauen in die Wirtschaft als Ganzes. Die Nichteinhaltung dieser Pflichten ist keineswegs ein Kavaliersdelikt. Das Bundesamt für Justiz leitet bei Verstößen ein Ordnungsgeldverfahren ein, das zu empfindlichen finanziellen Sanktionen führen kann. Für Dich als zukünftige:r Rechtsberater:in ist es daher von höchster Bedeutung, die Mechanismen und die Bedeutung der Offenlegungspflicht zu verinnerlichen, denn sie ist die Regel, von der es nur eng auszulegende Ausnahmen gibt.
Ausnahmen von der Regel: Die Befreiungstatbestände der §§ 264 Abs. 3 und 264b HGB
Obwohl die Offenlegungspflicht den Regelfall darstellt, hat der Gesetzgeber erkannt, dass eine starre Anwendung in bestimmten Konstellationen zu einem unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand führen kann. Daher wurden im HGB spezifische Befreiungstatbestände geschaffen. Die zentralen Normen hierfür sind § 264 Abs. 3 HGB und § 264b HGB. Diese Vorschriften ermöglichen es Tochterunternehmen unter bestimmten Voraussetzungen, von der Pflicht zur Aufstellung, Prüfung und Offenlegung eines eigenen Jahresabschlusses und Lageberichts befreit zu werden. Der Grundgedanke dahinter ist die Vermeidung von Doppelarbeit innerhalb eines Konzerns. Wenn die Geschäftstätigkeit des Tochterunternehmens bereits vollständig im Konzernabschluss des Mutterunternehmens abgebildet und dieser ebenfalls nach strengen Regeln geprüft und offengelegt wird, soll dem Tochterunternehmen der eigene, aufwendige Prozess erspart bleiben.
Die Voraussetzungen für eine solche Befreiung sind jedoch streng und klar definiert. Eine der wichtigsten Bedingungen, die in § 264b Nr. 1 lit. b HGB normiert ist, betrifft den Sitz des Mutterunternehmens. Eine Befreiung ist nur dann möglich, wenn das Mutterunternehmen seinen Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) hat (Quelle: Kleeberg). Diese geografische Beschränkung ist kein Zufall. Sie basiert auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und der Harmonisierung des Bilanzrechts innerhalb des europäischen Binnenmarktes. Die EU-Bilanzrichtlinie (2013/34/EU) stellt sicher, dass die Rechnungslegungsstandards in allen Mitgliedstaaten ein vergleichbar hohes Niveau an Transparenz und Verlässlichkeit aufweisen. Genau diese Gleichwertigkeit kann bei Unternehmen aus Drittstaaten – also Staaten außerhalb der EU/des EWR – nicht ohne Weiteres unterstellt werden. Hier liegt der Kern des Problems, mit dem sich das OLG Köln auseinandersetzen musste.
| Voraussetzung für die Befreiung nach § 264b HGB (Auszug) | Erläuterung | 
|---|---|
| Einbeziehung in den Konzernabschluss | Das Tochterunternehmen muss in den Konzernabschluss des Mutterunternehmens einbezogen sein. | 
| Sitz des Mutterunternehmens | Das Mutterunternehmen muss seinen Sitz in einem EU- oder EWR-Mitgliedstaat haben. | 
| Zustimmung der Gesellschafter | Alle Gesellschafter:innen des Tochterunternehmens müssen der Befreiung zustimmen. | 
| Haftungsübernahme | Das Mutterunternehmen muss für die vom Tochterunternehmen eingegangenen Verpflichtungen bürgen. | 
| Offenlegung der Befreiung | Die Inanspruchnahme der Befreiung muss im Anhang des Konzernabschlusses angegeben werden. | 
Der konkrete Fall vor dem OLG Köln: Eine US-Mutter im Fokus
Die juristische Debatte fand ihren Höhepunkt in einem konkreten Fall, den das OLG Köln am 19. April 2023 zu entscheiden hatte (Az. 28 WX 21/22). Im Zentrum des Verfahrens stand eine deutsche Kapitalgesellschaft, deren alleinige Gesellschafterin eine Muttergesellschaft mit Sitz in den USA war (Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt). Die deutsche Tochtergesellschaft war ordnungsgemäß in den Konzernabschluss ihrer US-amerikanischen Mutter einbezogen. Unter Berufung auf diese Einbeziehung argumentierte das Unternehmen, es sei von der Pflicht zur Offenlegung eines eigenen Jahresabschlusses in Deutschland befreit. Da die Muttergesellschaft jedoch nicht in der EU oder im EWR, sondern in einem Drittstaat ansässig ist, waren die gesetzlichen Voraussetzungen des § 264b HGB dem Wortlaut nach eindeutig nicht erfüllt.
Die rechtliche Strategie des Unternehmens basierte daher auf der Argumentation einer analogen Anwendung der Befreiungsvorschrift. Es wurde vorgebracht, dass eine wortgetreue Auslegung eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung darstelle. Insbesondere wurde auf den deutsch-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag aus dem Jahr 1954 verwiesen. Dieser völkerrechtliche Vertrag enthält Meistbegünstigungs- und Inländergleichbehandlungsklauseln, die eine Diskriminierung von US-Unternehmen in Deutschland verhindern sollen. Die zentrale Frage für das Gericht war also: Liegt eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz vor, die es erlaubt und gebietet, die für EU-/EWR-Muttergesellschaften geltende Ausnahme auch auf Muttergesellschaften aus Drittstaaten wie den USA zu erweitern? Oder hat der deutsche Gesetzgeber in voller Kenntnis der Sachlage und gebunden durch europäische Vorgaben bewusst eine solche Erweiterung ausgeschlossen? Die Beantwortung dieser Frage hatte grundsätzliche Bedeutung für Tausende von Unternehmen in Deutschland, die Teil von Konzernen mit Hauptsitz außerhalb der EU sind.
Die Entscheidung des OLG Köln: Eine klare Absage an die Analogie
Das OLG Köln erteilte der Argumentation des Unternehmens eine klare und juristisch detailliert begründete Absage. Der Senat entschied, dass eine analoge Anwendung der Befreiungsvorschriften der §§ 264 Abs. 3 und 264b HGB auf Tochtergesellschaften von Mutterunternehmen mit Sitz in einem Drittstaat nicht in Betracht kommt (Quelle: Kleeberg). Die Begründung des Gerichts stützt sich auf mehrere Säulen, die für Dein juristisches Verständnis von zentraler Bedeutung sind:
- Der abschließende Charakter der Ausnahmeregelung: Das Gericht stellte fest, dass die §§ 264 und 264b HGB als abschließende Ausnahmeregelungen konzipiert sind. Der Gesetzgeber hat bewusst und präzise die Voraussetzungen formuliert, unter denen von der grundsätzlichen Offenlegungspflicht abgewichen werden darf. Die explizite Beschränkung auf Mutterunternehmen mit Sitz in der EU oder im EWR ist kein Versehen, sondern eine gewollte gesetzgeberische Entscheidung. Eine solche bewusste Begrenzung schließt die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke – der Grundvoraussetzung für jede Analogie – von vornherein aus. Der Wille des Gesetzgebers war es, die Befreiung an die harmonisierten und als gleichwertig anerkannten Rechnungslegungsstandards innerhalb des europäischen Binnenmarktes zu koppeln (Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt).
 - Der Vorrang des Unionsrechts: Ein entscheidender Punkt in der Argumentation des OLG ist die Bindung des deutschen Gesetzgebers an das Unionsrecht. Die Befreiungsmöglichkeiten im HGB sind eine direkte Umsetzung der EU-Bilanzrichtlinie. Diese Richtlinie sieht eine Erweiterung der Befreiung auf Drittstaaten nicht vor. Der deutsche Gesetzgeber konnte und durfte daher im nationalen Recht nicht über die unionsrechtlichen Vorgaben hinausgehen. Eine analoge Anwendung durch die Gerichte würde diesen europäischen Rahmen unterlaufen und stünde im Widerspruch zum Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts (effet utile). Die Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums mit vergleichbaren Standards würde konterkariert, wenn einzelne Mitgliedstaaten die Privilegien einseitig auf Drittstaaten ausdehnen würden.
 - Keine unbillige Benachteiligung oder Verstoß gegen Völkerrecht: Das Gericht setzte sich auch intensiv mit dem Argument auseinander, die Regelung verstoße gegen den deutsch-amerikanischen Freundschaftsvertrag. Es kam zu dem Schluss, dass keine unzulässige Diskriminierung vorliegt. Die unterschiedliche Behandlung von EU-/EWR-Konstellationen und Drittstaaten-Konstellationen ist sachlich gerechtfertigt. Die Rechtfertigung liegt in dem bereits erwähnten System der harmonisierten und gegenseitig anerkannten Rechnungslegungs- und Prüfungsstandards innerhalb der EU. Ein solches System der garantierten Gleichwertigkeit besteht mit Drittstaaten wie den USA eben nicht in institutionalisierter Form. Daher ist die Differenzierung nicht willkürlich, sondern eine folgerichtige Konsequenz der unterschiedlichen Grade rechtlicher und wirtschaftlicher Integration (Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt).
 
Praktische Folgen der Entscheidung und Ausblick
Die Entscheidung des OLG Köln hat weitreichende und sehr konkrete Auswirkungen auf die Unternehmenspraxis in Deutschland. Sie schafft Rechtsklarheit in einer lange umstrittenen Frage und zwingt international aufgestellte Konzerne, ihre Compliance-Strukturen zu überprüfen. Die wichtigste Konsequenz ist, dass alle in Deutschland ansässigen Kapitalgesellschaften, deren Mutterunternehmen in einem Drittstaat (z.B. USA, Vereinigtes Königreich nach dem Brexit, Schweiz, China, Japan) sitzt, der vollen deutschen Offenlegungspflicht nach § 325 HGB unterliegen. Sie können sich nicht darauf berufen, dass sie in den Konzernabschluss ihrer ausländischen Mutter einbezogen sind. Dies bedeutet, dass diese Tochtergesellschaften einen eigenen Jahresabschluss und Lagebericht nach deutschem Handelsrecht aufstellen, diesen von einem Wirtschaftsprüfer oder einer Wirtschaftsprüferin prüfen lassen und anschließend fristgerecht beim Bundesanzeiger zur Veröffentlichung einreichen müssen (Quelle: Kleeberg).
Für betroffene Unternehmen bedeutet dies einen erheblichen administrativen und finanziellen Mehraufwand. Rechtsabteilungen und Finanzabteilungen müssen sicherstellen, dass die nationalen Vorschriften strikt eingehalten werden, um die Einleitung von Ordnungsgeldverfahren durch das Bundesamt für Justiz zu vermeiden. Diese Verfahren können nicht nur teuer werden, sondern auch einen Reputationsschaden nach sich ziehen. Die Entscheidung unterstreicht die Notwendigkeit einer sorgfältigen rechtlichen Beratung für international tätige Unternehmen, um die spezifischen Anforderungen des deutschen Rechts zu verstehen und umzusetzen. Für Dich als Jurist:in der Zukunft bedeutet dies ein wichtiges Beratungsfeld. Du musst in der Lage sein, Mandantinnen und Mandanten präzise über die Grenzen von Befreiungstatbeständen aufzuklären und sie bei der Implementierung robuster Compliance-Systeme zu unterstützen. Das Urteil des OLG Köln ist somit ein Lehrstück über die Grenzen der Rechtsfortbildung durch Analogie, den Einfluss des Europarechts auf das nationale Recht und die praktischen Herausforderungen der Globalisierung für das Unternehmensrecht. Es zeigt eindrücklich, dass im harmonisierten europäischen Rechtsraum der Wortlaut des Gesetzes und der Wille des europäischen Gesetzgebers oberste Priorität haben.