BAG-Urteil zur Vergütung bei Freistellung: Wann entfällt die Anrechnung nach § 615 S. 2 BGB?
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Wichtigste Erkenntnisse
- Stark erhöhte Hürden für § 615 S. 2 BGB: Das BAG stellt klar, dass bloße Untätigkeit eines freigestellten Arbeitnehmers kein „böswilliges Unterlassen“ darstellt. Es bedarf eines nachweislich treuwidrigen und mutwilligen Verhaltens.
- Enorme Beweislast für Arbeitgeber: Der Arbeitgeber muss eine konkrete, zumutbare Jobmöglichkeit sowie die böswillige Ablehnung durch den Arbeitnehmer lückenlos nachweisen, was in der Praxis kaum gelingen dürfte.
- Keine Bewerbungspflicht in der Freistellung: Arbeitnehmer sind während einer unwiderruflichen Freistellung grundsätzlich nicht verpflichtet, sich aktiv um eine neue Stelle zu bemühen.
- Regelfall ist die volle Vergütung: Infolge des Urteils ist die Lohnfortzahlung während der Freistellung die Regel; eine Anrechnung anderweitigen Verdienstes wird zur absoluten Ausnahme.
Inhaltsverzeichnis
- Vergütung trotz Freistellung: Unter welchen Voraussetzungen entfällt laut BAG die Anrechnung anderweitigen Verdienstes gemäß § 615 S. 2 BGB?
- Der Grundsatz: Voller Lohn bei Annahmeverzug gemäß § 615 S. 1 BGB
- Die Ausnahme wird enger: Das böswillige Unterlassen nach § 615 S. 2 BGB im Licht der neuen Rechtsprechung
- Die Beweislast des Arbeitgebers: Eine kaum zu überwindende Hürde
- Praktische Folgen und strategische Überlegungen für die juristische Praxis
- Fazit: Fast immer voller Lohn trotz Freistellung
Vergütung trotz Freistellung: Unter welchen Voraussetzungen entfällt laut BAG die Anrechnung anderweitigen Verdienstes gemäß § 615 S. 2 BGB?
Die Frage der Vergütung trotz Freistellung nach einer Kündigung ist ein Dauerbrenner im Arbeitsrecht und ein hochrelevantes Thema für Examenskandidat:innen und junge Berufstätige. Insbesondere die Anrechnung von Einkünften aus einer neuen Tätigkeit oder die Frage, was passiert, wenn sich freigestellte Arbeitnehmer:innen gar nicht erst um einen neuen Job bemühen, führt regelmäßig zu Rechtsstreitigkeiten. Mit einem wegweisenden Urteil vom 12. Februar 2025 (Az. 5 AZR 127/24) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) nun für erhebliche Klarheit gesorgt und die Hürden für eine Anrechnung anderweitigen Verdienstes gemäß § 615 S. 2 BGB massiv erhöht. Die Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen für die Praxis und stärkt die Position von Arbeitnehmer:innen erheblich. In diesem Beitrag analysieren wir die Kernaussagen des Urteils, beleuchten die dogmatischen Grundlagen und zeigen auf, welche praktischen Folgen sich für die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen und deren Beendigung ergeben. Für Dich als angehende:n Jurist:in ist das Verständnis dieser Entscheidung unerlässlich, um die Rechte und Pflichten im Kündigungsprozess korrekt einschätzen zu können.
Der Grundsatz: Voller Lohn bei Annahmeverzug gemäß § 615 S. 1 BGB
Um die Tragweite des neuen BAG-Urteils vollständig zu erfassen, ist ein Blick auf die gesetzliche Ausgangslage unerlässlich. Die Grundlage für den Vergütungsanspruch bei einer Freistellung findet sich in den Regelungen zum Annahmeverzug des Arbeitgebers, primär in § 615 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Spricht ein Arbeitgeber eine Kündigung aus und stellt den oder die Arbeitnehmer:in gleichzeitig unwiderruflich von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei, besteht das Arbeitsverhältnis rechtlich bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fort. Der oder die Arbeitnehmer:in ist zwar von der Pflicht zur Arbeit befreit, der Arbeitgeber aber nicht von seiner Hauptleistungspflicht: der Zahlung der Vergütung. Juristisch ausgedrückt, gerät der Arbeitgeber in Annahmeverzug (§§ 293 ff. BGB), da er die angebotene Arbeitsleistung nicht annimmt. Gemäß § 615 Satz 1 BGB behält der oder die Dienstverpflichtete – in diesem Fall der oder die Arbeitnehmer:in – den Anspruch auf die vereinbarte Vergütung, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein. Dieses Prinzip stellt sicher, dass das wirtschaftliche Risiko der Nichtbeschäftigung während der Kündigungsfrist primär beim Arbeitgeber verbleibt, der die Freistellung einseitig veranlasst hat. In der Praxis ist die unwiderrufliche Freistellung ein gängiges Instrument, um beispielsweise die Einarbeitung von Nachfolger:innen zu erleichtern, den Betriebsfrieden zu wahren oder den Zugriff auf sensible Unternehmensdaten zu unterbinden. Das BAG hat in ständiger Rechtsprechung klargestellt, dass dieser grundsätzliche Vergütungsanspruch auch dann nicht entfällt, wenn die Freistellung im Einvernehmen mit dem oder der Arbeitnehmer:in erfolgt, solange keine abweichende vertragliche Regelung getroffen wurde. Die Kernaussage ist also: Keine Arbeit, aber trotzdem voller Lohn – das ist der Regelfall.
Die Ausnahme wird enger: Das böswillige Unterlassen nach § 615 S. 2 BGB im Licht der neuen Rechtsprechung
Die scheinbar klare Regelung des § 615 Satz 1 BGB wird durch seinen zweiten Satz relativiert, der für Arbeitgeber lange Zeit als potenzielles Einfallstor zur Kürzung des Gehalts galt. Nach § 615 Satz 2 BGB muss sich der oder die Arbeitnehmer:in den Wert dessen anrechnen lassen, was er oder sie infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart, durch anderweitige Verwendung seiner oder ihrer Dienste erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt. Während die Anrechnung von tatsächlich erzieltem Verdienst aus einem neuen Job unstrittig ist, lag der Fokus der juristischen Auseinandersetzungen fast immer auf dem Tatbestandsmerkmal des „böswilligen Unterlassens“. Was genau bedeutet es, den Erwerb anderweitigen Verdienstes „böswillig“ zu unterlassen? Reicht es schon aus, wenn sich freigestellte Mitarbeitende zurücklehnen und die bezahlte Freizeit genießen, ohne Bewerbungen zu schreiben? Genau dieser Frage hat sich das BAG in seiner Entscheidung vom 12. Februar 2025 gewidmet und eine klare Antwort gegeben: Nein, bloße Untätigkeit genügt nicht.
Das Gericht stellt klar, dass der Begriff der „Böswilligkeit“ ein moralisch vorwerfbares, treuwidriges und mutwilliges Verhalten erfordert. Ein solches Verhalten liegt laut BAG nur dann vor, wenn Arbeitnehmer:innen eine zumutbare anderweitige Tätigkeit vorsätzlich nicht annehmen, obwohl ihnen dies möglich und zumutbar wäre, und sie dabei in einer Weise handeln, die gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Im zugrundeliegenden Fall hatte der Arbeitgeber der gekündigten und freigestellten Mitarbeiterin insgesamt 43 Stellenangebote von der Agentur für Arbeit zukommen lassen, auf die sich diese jedoch nicht bewarb. Der Arbeitgeber sah darin ein böswilliges Unterlassen und stellte die Gehaltszahlungen ein. Das BAG folgte dieser Argumentation nicht. Es entschied, dass Arbeitnehmer:innen während einer unwiderruflichen Freistellung grundsätzlich nicht verpflichtet sind, sich aktiv um eine neue Beschäftigung zu bemühen. Das bloße Ignorieren von Jobvorschlägen oder das Unterlassen von Bewerbungsbemühungen erfüllt den Tatbestand der Böswilligkeit nicht. Erforderlich ist vielmehr ein qualifiziertes, zielgerichtetes Verhalten, das darauf abzielt, dem früheren Arbeitgeber bewusst einen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, indem man eine konkrete und zumutbare Verdienstmöglichkeit mutwillig ausschlägt. Diese extrem hohe Hürde bedeutet, dass der Anwendungsbereich des § 615 Satz 2 BGB in der Praxis drastisch eingeschränkt wird.
Die Beweislast des Arbeitgebers: Eine kaum zu überwindende Hürde
Die Entscheidung des BAG hat nicht nur den Begriff der Böswilligkeit neu justiert, sondern auch die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers präzisiert. Wer sich als Arbeitgeber auf § 615 Satz 2 BGB berufen und die Gehaltszahlung kürzen möchte, trägt die volle Last, die anspruchsbegründenden Tatsachen substantiiert vorzutragen und im Streitfall zu beweisen. Diese Hürden sind nach dem neuen Urteil so hoch, dass sie in der Praxis kaum noch zu überwinden sein dürften. Der Arbeitgeber muss demnach nicht nur das Vorliegen einer anderweitigen Verdienstmöglichkeit, sondern auch deren Böswilligkeit im Sinne der Rechtsprechung nachweisen.
Konkret muss der Arbeitgeber darlegen und beweisen:
Anforderung an den Arbeitgeber | Erläuterung laut BAG-Rechtsprechung |
---|---|
1. Konkrete und reale Erwerbsmöglichkeit | Das bloße Zusenden von Links zu Jobportalen oder pauschale Hinweise auf den Arbeitsmarkt reichen nicht aus. Der Arbeitgeber muss eine ganz konkrete, für den oder die Arbeitnehmer:in passende und verfügbare Stelle benennen. |
2. Zumutbarkeit der Tätigkeit | Die angebotene Stelle muss für den oder die Arbeitnehmer:in zumutbar sein. Dies bemisst sich an Kriterien wie der bisherigen Position, der Qualifikation, dem Gehaltsniveau, dem Arbeitsort und den sonstigen Arbeitsbedingungen. Eine deutlich schlechter bezahlte oder qualifizierte Tätigkeit ist in der Regel nicht zumutbar. |
3. Böswilliges Verhalten | Der Arbeitgeber muss nachweisen, dass der oder die Arbeitnehmer:in die konkrete und zumutbare Stelle nicht aus nachvollziehbaren Gründen, sondern aus einem verwerflichen Motiv heraus abgelehnt hat. Dies ist der schwierigste Teil des Beweises, da er einen Einblick in die subjektive Motivationslage erfordert. |
4. Höhe des entgangenen Verdienstes | Schließlich muss der Arbeitgeber konkret beziffern, welcher Verdienst bei Annahme der Stelle erzielt worden wäre. Wie das BAG selbst anmerkt, ist dies oft eine große Herausforderung, da öffentliche Stellenanzeigen selten genaue Gehaltsangaben enthalten und eine Schätzung oft unzureichend ist. |
Diese kumulativen Voraussetzungen machen deutlich, dass ein Arbeitgeber nicht einfach pauschal Untätigkeit vorwerfen kann. Er muss eine detaillierte und lückenlose Kausalkette aufzeigen, die in den meisten Fällen scheitern wird. Die Entscheidung des BAG schiebt damit einem missbräuchlichen Einsatz von § 615 Satz 2 BGB einen Riegel vor und sorgt für Rechtsklarheit. Für Arbeitgeber bedeutet dies, dass eine Freistellung nach einer Kündigung fast immer mit der Verpflichtung zur vollen Lohnfortzahlung verbunden ist.
Praktische Folgen und strategische Überlegungen für die juristische Praxis
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts hat unmittelbare und weitreichende Konsequenzen für die arbeitsrechtliche Praxis, die Du als zukünftige:r Rechtsberater:in kennen musst. Es verschiebt das Machtgefüge in der Phase nach einer Kündigung deutlich zugunsten der Arbeitnehmer:innen und zwingt Arbeitgeber, ihre Strategien bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen zu überdenken.
Für Arbeitnehmer:innen bedeutet das Urteil vor allem eine erhebliche Entlastung. Sie müssen sich während einer unwiderruflichen Freistellung nicht unter Druck setzen lassen, sofort eine neue Beschäftigung zu suchen. Der Druck, sich während der Kündigungsfrist aktiv um einen neuen Job zu bemühen, entfällt weitgehend, solange kein böswilliges Verhalten nachgewiesen werden kann. Sie können die Zeit nutzen, um sich neu zu orientieren, ohne finanzielle Einbußen fürchten zu müssen. Vorsicht ist jedoch geboten: Das Urteil ist kein Freibrief für absolut jedes Verhalten. Lehnen Arbeitnehmer:innen nachweislich eine konkrete, passende und gut bezahlte Stelle mit der expliziten Begründung ab, dem alten Arbeitgeber schaden zu wollen, könnte die Schwelle zur Böswilligkeit überschritten sein.
Für Arbeitgeber erhöht das Urteil das wirtschaftliche Risiko einer Freistellung erheblich. Die Option, Gehaltszahlungen unter Verweis auf § 615 Satz 2 BGB einzustellen oder zu kürzen, ist faktisch nur noch in extremen Ausnahmefällen gegeben. Arbeitgeber müssen daher sehr sorgfältig abwägen, ob eine Freistellung wirklich das Mittel der Wahl ist. Alternativen wie eine Weiterbeschäftigung an einem anderen Arbeitsplatz, eine widerrufliche Freistellung (die andere rechtliche Implikationen hat) oder der Abschluss eines Aufhebungsvertrags gewinnen an Bedeutung. Insbesondere Aufhebungsverträge bieten eine Möglichkeit, Rechtssicherheit zu schaffen. In einem solchen Vertrag können die Parteien alle gegenseitigen Ansprüche, einschließlich des Gehalts bis zum Beendigungsdatum, abschließend regeln und eine Abfindung vereinbaren. Anrechnungsklauseln, die im Vertrag festlegen, dass anderweitiger Verdienst auf die restlichen Gehaltszahlungen angerechnet wird, sind zwar möglich, müssen aber klar und transparent formuliert sein und dürfen die Arbeitnehmer:innen nicht unangemessen benachteiligen.
Fazit: Fast immer voller Lohn trotz Freistellung
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 12. Februar 2025 (Az. 5 AZR 127/24) ist ein Meilenstein in der Rechtsprechung zum Annahmeverzugslohn. Die Anrechnung anderweitigen Verdienstes bzw. dessen böswilligen Unterlassens nach § 615 S. 2 BGB entfällt laut BAG grundsätzlich während einer Freistellung nach Kündigung, sofern der oder die Arbeitnehmer:in nicht in besonders eklatanter und nachweislich treuwidriger Weise eine zumutbare, konkrete Erwerbsmöglichkeit mutwillig vereitelt. Die Hürden für Arbeitgeber, ein solches böswilliges Verhalten nachzuweisen, sind nunmehr so hoch, dass die Anrechnung zur absoluten Ausnahme wird und die volle Vergütung in der Regel weiterzuzahlen ist. Das Urteil schafft damit erhebliche Rechtsklarheit und stärkt die Position von Arbeitnehmer:innen in der oft schwierigen Phase nach einer Kündigung. Für Dich als Jurist:in der Zukunft ist dieses Wissen von unschätzbarem Wert – sei es bei der Beratung von Mandant:innen, der Gestaltung von Verträgen oder in der mündlichen Prüfung im Arbeitsrecht.