Wann darf von einem Bebauungsplan abgewichen werden? Die OVG Koblenz Entscheidung zur Ermöglichung einer Grundstückszufahrt und die rechtlichen Grundlagen
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Wichtigste Erkenntnisse:
- Abweichungen vom Bebauungsplan sind unter bestimmten Voraussetzungen möglich (§ 31 BauGB).
- § 31 Abs. 1 BauGB regelt Ausnahmen, die bereits im Bebauungsplan vorgesehen sein müssen.
- § 31 Abs. 2 BauGB ermöglicht Befreiungen, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und spezielle Tatbestände (Wohl der Allgemeinheit, städtebauliche Vertretbarkeit, nicht beabsichtigte Härte) vorliegen.
- Bauordnungsrechtliche Abweichungen betreffen Anforderungen der Landesbauordnungen und sind separat zu betrachten.
- Anträge auf Abweichungen, Ausnahmen oder Befreiungen müssen ausführlich begründet werden.
Inhaltsverzeichnis:
- Wann darf von einem Bebauungsplan abgewichen werden? Ein Tiefgang in die Ausnahmen und Befreiungen im Baurecht
- Ausnahmen nach § 31 Abs. 1 BauGB: Die im Plan vorgesehene Flexibilität
- Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB: Wenn der Plan keine Ausnahme vorsieht
- Bauordnungsrechtliche Abweichungen: Jenseits des Bebauungsplans
- Das Antragsverfahren: Der formale Weg zur Abweichung
- Die OVG Koblenz Entscheidung zur Grundstückszufahrt: Ein Blick in die (mögliche) Praxis von § 31 BauGB
Wann darf von einem Bebauungsplan abgewichen werden? Ein Tiefgang in die Ausnahmen und Befreiungen im Baurecht
Der Bebauungsplan ist das zentrale Instrument der Stadtplanung und regelt verbindlich, wie Grundstücke bebaut und genutzt werden dürfen. Für Bauherr:innen und Projektentwickler:innen stellt er oft eine erste und wichtige Hürde dar, aber auch eine Grundlage für Rechtssicherheit. Doch was geschieht, wenn ein Bauvorhaben nicht exakt den Festsetzungen des Bebauungsplans entspricht? Muss das Projekt dann zwangsläufig aufgegeben werden? Die Antwort ist: nicht unbedingt. Das deutsche Baurecht sieht verschiedene Mechanismen vor, um in begründeten Fällen von den starren Vorgaben eines Bebauungsplans abzuweichen. Ein aktuelles Beispiel, das die Relevanz dieser Frage unterstreicht, könnte eine Entscheidung des OVG Koblenz zur Ermöglichung einer Grundstückszufahrt sein, die von den ursprünglichen Planvorgaben abweicht. Auch wenn die spezifischen Details dieser Entscheidung hier nicht im Fokus stehen, dient sie als Anlass, die generellen Möglichkeiten und Voraussetzungen für Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen nach dem Baugesetzbuch (BauGB) und den Landesbauordnungen genauer zu beleuchten. Dieser Beitrag führt Dich durch die komplexen Regelungen und zeigt Dir, unter welchen Umständen Du von einem Bebauungsplan abweichen darfst.
Bevor wir uns den spezifischen Möglichkeiten der Abweichung widmen, ist es wichtig, die Rolle und Verbindlichkeit des Bebauungsplans zu verstehen. Ein Bebauungsplan enthält rechtsverbindliche Festsetzungen für die städtebauliche Ordnung. Gemäß § 1 Abs. 3 BauGB sind Bebauungspläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Sie konkretisieren die generellen Ziele der Bauleitplanung und können beispielsweise die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen, die Stellung der baulichen Anlagen, Verkehrsflächen sowie Grünflächen festsetzen (§ 9 BauGB). Diese Festsetzungen sind für Bauvorhaben im Geltungsbereich des Bebauungsplans grundsätzlich bindend. Diese Bindungswirkung dient der Verwirklichung der Planungsziele der Gemeinde, der Sicherung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung und dem Schutz nachbarlicher Interessen sowie der Allgemeinheit. Die im Bebauungsplan getroffenen Festsetzungen schaffen somit Planungs- und Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Ohne diese Verbindlichkeit wäre eine geordnete Stadtentwicklung kaum denkbar. Doch das Baurecht erkennt an, dass starre Pläne der Dynamik des Lebens und sich ändernden Bedürfnissen nicht immer gerecht werden können. Daher wurden Instrumente geschaffen, die eine gewisse Flexibilität ermöglichen, ohne die Grundkonzeption der Planung auszuhebeln.
Ausnahmen nach § 31 Abs. 1 BauGB: Die im Plan vorgesehene Flexibilität
Eine erste Möglichkeit, von den Festsetzungen eines Bebauungsplans abzuweichen, bietet der § 31 Abs. 1 BauGB durch sogenannte Ausnahmen. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass diese Ausnahmen bereits im Bebauungsplan selbst angelegt sein müssen (immoportal.com). Sie stellen also keine ungeplante Abweichung dar, sondern eine von der planenden Gemeinde bereits antizipierte und für zulässig erklärte Flexibilisierung für bestimmte, im Plan definierte Sachverhalte. Die Gemeinde hat bei der Aufstellung des Bebauungsplans erkannt, dass für bestimmte Konstellationen eine Abweichung von der Regeltypologie sinnvoll sein kann, ohne die allgemeinen Planungsziele zu gefährden.
Es gibt zwei Hauptwege, wie solche Ausnahmen im Bebauungsplan verankert sein können:
- Explizite Nennung: Der Bebauungsplan kann bestimmte Nutzungen oder bauliche Gestaltungen explizit als „ausnahmsweise zulässig“ deklarieren. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn in einem allgemeinen Wohngebiet (WA) kleine Läden zur Deckung des täglichen Bedarfs „ausnahmsweise zulässig“ sind, obwohl sie ansonsten in einem reinen Wohngebiet (WR) nicht oder nur unter strengeren Voraussetzungen erlaubt wären. Die textlichen Festsetzungen oder die Planzeichnung enthalten dann entsprechende Formulierungen.
- Verweis auf die Baunutzungsverordnung (BauNVO): Viele Bebauungspläne verweisen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung auf die Kataloge der Baunutzungsverordnung. Die BauNVO selbst sieht in ihren einzelnen Baugebietskategorien (z.B. § 3 Abs. 3 BauNVO für Kleinsiedlungsgebiete, § 4 Abs. 3 BauNVO für allgemeine Wohngebiete) Regelungen für „ausnahmsweise zulässige“ Nutzungen vor (immoportal.com). Beispielsweise können in einem allgemeinen Wohngebiet Anlagen für soziale Zwecke oder nicht störende Handwerksbetriebe ausnahmsweise zugelassen werden.
Die Zulassung einer Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB liegt im Ermessen der Baugenehmigungsbehörde. Selbst wenn eine Ausnahme im Bebauungsplan vorgesehen ist, besteht kein Rechtsanspruch auf ihre Gewährung. Die Behörde prüft, ob die Ausnahme im konkreten Einzelfall mit den städtebaulichen Zielen und den nachbarlichen Interessen vereinbar ist. Die Hürden für eine Ausnahme sind jedoch in der Regel niedriger als für eine Befreiung, da die grundsätzliche Zulässigkeit bereits von der Gemeinde im Planungsprozess positiv bewertet wurde. Für Dich als Antragsteller:in bedeutet das, dass Du Deinen Antrag gut begründen musst, warum die Ausnahme in Deinem spezifischen Fall gerechtfertigt ist und keine unzumutbaren Störungen oder Beeinträchtigungen für die Umgebung oder die Allgemeinheit entstehen.
Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB: Wenn der Plan keine Ausnahme vorsieht
Deutlich komplexer und an strengere Voraussetzungen geknüpft ist die Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB. Eine Befreiung kommt dann in Betracht, wenn der Bebauungsplan selbst keine Ausnahme für das geplante Vorhaben vorsieht. Die grundlegende und wichtigste Voraussetzung für jede Befreiung ist, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden dürfen (immoportal.com, ammerland.de). Dies ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der im Einzelfall auszulegen ist. Vereinfacht gesagt bedeutet es, dass die Abweichung nicht so gravierend sein darf, dass sie den planerischen Kerngehalt des Bebauungsplans in Frage stellt oder eine grundlegend andere städtebauliche Situation schafft, als von der Gemeinde beabsichtigt war. Eine Befreiung, die beispielsweise eine gewerbliche Nutzung in einem als reines Wohngebiet festgesetzten Bereich ermöglichen würde, dürfte regelmäßig die Grundzüge der Planung berühren.
Ist diese Hürde genommen, muss zusätzlich mindestens einer der folgenden drei Befreiungstatbestände erfüllt sein:
- Gründe des Wohls der Allgemeinheit erfordern die Befreiung: Dies ist der Fall, wenn die Verwirklichung des Vorhabens im öffentlichen Interesse liegt. Dazu zählt explizit auch der Bedarf zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden (immoportal.com, ammerland.de). Aber auch andere öffentliche Zwecke, wie der Bau von Infrastruktureinrichtungen (Schulen, Kitas, Krankenhäuser), können hierunter fallen, wenn sie von den Planfestsetzungen abweichen. Die Dringlichkeit und Wichtigkeit des öffentlichen Interesses müssen dabei die Interessen an der Einhaltung des Bebauungsplans überwiegen.
- Die Abweichung ist städtebaulich vertretbar: Städtebauliche Vertretbarkeit liegt vor, wenn das Vorhaben trotz der Abweichung vom Bebauungsplan mit einer geordneten städtebaulichen Entwicklung vereinbar ist. Das bedeutet, dass die Abweichung keine negativen Auswirkungen auf die städtebauliche Situation haben darf, wie etwa eine Verschlechterung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse, eine Beeinträchtigung des Orts- oder Landschaftsbildes oder eine Störung der Erschließung (immoportal.com, ammerland.de). Die Beurteilung erfolgt anhand einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange. Eine geringfügige Überschreitung der Baugrenze oder der zulässigen Geschossflächenzahl könnte hierunter fallen, wenn sie städtebaulich unbedenklich ist.
- Die Durchführung des Bebauungsplans würde zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen: Dieser Tatbestand greift, wenn die strikte Anwendung der Planfestsetzungen im konkreten Einzelfall zu einem Ergebnis führen würde, das die planende Gemeinde so nicht gewollt haben kann und das für den oder die Betroffene:n unzumutbar ist (immoportal.com, ammerland.de). Die Härte muss „offenbar“ und „nicht beabsichtigt“ sein. Eine Härte liegt nicht schon dann vor, wenn ein Grundstück nicht optimal ausgenutzt werden kann. Vielmehr muss es sich um atypische Grundstücksverhältnisse oder besondere Umstände handeln, die bei der Planaufstellung nicht berücksichtigt wurden. Ein klassisches Beispiel wäre ein ungünstiger Grundstückszuschnitt, der eine sinnvolle Bebauung nach Planvorgaben unmöglich macht.
Zusätzlich zu diesen Voraussetzungen muss die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein (immoportal.com). Das bedeutet, dass die Interessen der Nachbar:innen angemessen berücksichtigt werden müssen und die Befreiung nicht zu unzumutbaren Beeinträchtigungen für sie führen darf. Auch hier entscheidet die Behörde nach Ermessen. Eine Befreiung stellt somit einen Eingriff in die Planungshoheit der Gemeinde dar und wird nur restriktiv gehandhabt.
Bauordnungsrechtliche Abweichungen: Jenseits des Bebauungsplans
Neben den planungsrechtlichen Abweichungen nach dem BauGB gibt es auch die Möglichkeit bauordnungsrechtlicher Abweichungen. Diese beziehen sich nicht auf die Festsetzungen des Bebauungsplans (wie Art und Maß der Nutzung), sondern auf die materiellen Anforderungen der jeweiligen Landesbauordnung (LBO). Beispiele hierfür sind Abstandsflächen, Brandschutzvorschriften, Anforderungen an Aufenthaltsräume oder die Barrierefreiheit. Eine bauordnungsrechtliche Abweichung kann zugelassen werden, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist (ammerland.de).
Der Kern dieser Prüfung liegt darin, ob das Schutzziel der jeweiligen bauordnungsrechtlichen Vorschrift auch auf andere Weise erreicht werden kann oder ob die Abweichung im konkreten Fall vertretbar ist, ohne wesentliche öffentliche oder nachbarliche Belange zu verletzen. Wenn beispielsweise von einer bestimmten Brandschutzanforderung abgewichen werden soll, muss nachgewiesen werden, dass durch alternative Maßnahmen (z.B. spezielle Brandmeldeanlagen oder feuerhemmende Baustoffe) ein gleichwertiges Sicherheitsniveau erreicht wird. Auch hier ist eine sorgfältige Begründung und oft die Vorlage von Sachverständigengutachten erforderlich. Diese Art der Abweichung ist besonders relevant bei Sanierungen von Bestandsgebäuden, wo die Einhaltung aller aktuellen Vorschriften oft technisch unmöglich oder wirtschaftlich unzumutbar wäre, ohne den Charakter des Gebäudes zu zerstören. Die zuständige Bauaufsichtsbehörde hat auch hier einen Ermessensspielraum. Es ist wichtig zu verstehen, dass eine bauordnungsrechtliche Abweichung keine planungsrechtliche Befreiung ersetzt und umgekehrt. Beide Instrumente adressieren unterschiedliche Regelungsbereiche und können gegebenenfalls parallel beantragt werden müssen.
Das Antragsverfahren: Der formale Weg zur Abweichung
Wenn Du für Dein Bauvorhaben eine Abweichung, Ausnahme oder Befreiung von baurechtlichen Vorschriften benötigst, musst Du dies aktiv bei der zuständigen Behörde beantragen. Die Zulassung einer Abweichung, sei es eine Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB, eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB oder eine bauordnungsrechtliche Abweichung, muss gesondert beantragt und vor allem ausführlich begründet werden (verwaltungsportal.hessen.de). Dies gilt nicht nur für baugenehmigungsbedürftige Vorhaben, sondern auch für solche, die eigentlich baugenehmigungsfrei gestellt sind oder sogar verfahrensfrei wären (verwaltungsportal.hessen.de). Sobald eine Abweichung von geltendem Recht erforderlich wird, entfällt in der Regel die Genehmigungsfreiheit, und ein formales Verfahren wird notwendig.
Im Antrag musst Du detailliert darlegen, von welchen konkreten Festsetzungen oder Vorschriften abgewichen werden soll und warum die Voraussetzungen für die Zulassung der Abweichung im spezifischen Fall erfüllt sind. Bei Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB bedeutet dies insbesondere, die Argumente für das Vorliegen eines der drei Befreiungstatbestände (Wohl der Allgemeinheit, städtebauliche Vertretbarkeit, nicht beabsichtigte Härte) sowie die Wahrung der Grundzüge der Planung und die Vereinbarkeit mit nachbarlichen und öffentlichen Belangen überzeugend darzulegen. Die Bauaufsichtsbehörde prüft dann Deinen Antrag sorgfältig. Sie wird insbesondere untersuchen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Ausnahme oder Befreiung tatsächlich vorliegen. Eine Befreiung kann nur genehmigt werden, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und keine anderen rechtlichen Hindernisse entgegenstehen (immoportal.com). Es empfiehlt sich oft, frühzeitig das Gespräch mit der zuständigen Behörde zu suchen, um die Erfolgsaussichten eines Antrags einschätzen und mögliche Probleme im Vorfeld klären zu können. Eine professionelle Planung und eine stichhaltige juristische Argumentation sind hierbei unerlässlich.
Die OVG Koblenz Entscheidung zur Grundstückszufahrt: Ein Blick in die (mögliche) Praxis von § 31 BauGB
Auch wenn die detaillierten Rechercheergebnisse keine spezifischen Informationen zur zitierten Entscheidung des OVG Koblenz bezüglich der Ermöglichung einer Grundstückszufahrt liefern, können wir uns vorstellen, wie die allgemeinen Prinzipien der Abweichung vom Bebauungsplan in einem solchen Fall zur Anwendung kommen könnten. Die Frage der Grundstückszufahrt ist oft ein kritischer Punkt, da sie die Erschließung und Nutzbarkeit eines Grundstücks maßgeblich bestimmt. Ein Bebauungsplan kann Festsetzungen zu Lage, Breite und Gestaltung von Zufahrten enthalten oder sogar bestimmte Bereiche von Zufahrten ausschließen.
Angenommen, ein Bebauungsplan sieht für ein Grundstück keine direkte Zufahrtsmöglichkeit von einer bestimmten öffentlichen Straße vor, oder die vorgesehene Zufahrt ist aufgrund topographischer Gegebenheiten oder später eingetretener Umstände (z.B. veränderte Verkehrsführung) ungeeignet oder unzumutbar geworden. In einem solchen Szenario könnte der oder die Grundstückseigentümer:in versuchen, eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB für eine alternative Zufahrtslösung zu erwirken.
Folgende Überlegungen könnten dabei eine Rolle spielen:
- Grundzüge der Planung: Würde eine neue, von der Planung abweichende Zufahrt die Grundkonzeption des Plangebiets (z.B. Verkehrsberuhigung, Schutz von Grünflächen, geplante Sichtachsen) wesentlich beeinträchtigen? Eine einzelne Zufahrt für ein Wohnhaus wird die Grundzüge seltener berühren als eine neue Zufahrt für einen Gewerbebetrieb mit hohem Verkehrsaufkommen.
- Nicht beabsichtigte Härte: Wenn das Grundstück ohne die abweichende Zufahrt faktisch nicht oder nur unter unzumutbaren wirtschaftlichen oder praktischen Aufwendungen erschlossen werden kann, könnte eine nicht beabsichtigte Härte argumentiert werden. Dies setzt voraus, dass die planende Gemeinde diese spezifische Härtesituation bei der Planaufstellung nicht vorhergesehen hat.
- Städtebauliche Vertretbarkeit: Ist die alternative Zufahrt unter städtebaulichen Gesichtspunkten (Verkehrssicherheit, Auswirkungen auf das Ortsbild, Lärmemissionen) vertretbar? Hier könnten verkehrsplanerische Gutachten oder Stellungnahmen der Verkehrsbehörde relevant werden.
- Wohl der Allgemeinheit: Dieser Tatbestand käme seltener zum Tragen, es sei denn, die Zufahrt dient einem Vorhaben von besonderem öffentlichen Interesse.
- Nachbarliche Interessen und öffentliche Belange: Wie wirkt sich die neue Zufahrt auf die Nachbargrundstücke aus (z.B. durch Lärm, Abgase, Verlust von Privatsphäre)? Sind öffentliche Belange wie Naturschutz oder Denkmalschutz betroffen?
Ein Gericht wie das OVG Koblenz würde in einem solchen Fall eine umfassende Abwägung aller relevanten Aspekte vornehmen. Es würde prüfen, ob die Behörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat und ob die Voraussetzungen für eine Befreiung tatsächlich vorlagen. Solche Entscheidungen sind oft stark vom Einzelfall geprägt und verdeutlichen die Notwendigkeit einer sorgfältigen juristischen Argumentation und Sachverhaltsaufklärung. Für Dich als angehende:r Jurist:in zeigt dies, wie abstrakte Rechtsnormen in konkreten Lebenssachverhalten Anwendung finden und welche Detailtiefe in der Fallbearbeitung erforderlich ist.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Bebauungsplan zwar ein mächtiges und bindendes Instrument der Stadtplanung ist, das deutsche Baurecht jedoch mit den Instrumenten der Ausnahme, Befreiung und bauordnungsrechtlichen Abweichung notwendige Ventile für Flexibilität bereithält. Diese ermöglichen es, auf besondere Einzelfallsituationen, sich ändernde Bedürfnisse oder unvorhergesehene Härten zu reagieren, ohne die grundlegenden Ziele der Stadtplanung aufzugeben. Für Dich als Jurastudierende:r oder junge:r Jurist:in ist das Verständnis dieser Mechanismen unerlässlich, sei es in der Beratung von Mandant:innen, in der Tätigkeit für eine Baubehörde oder in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Baurecht. Die genaue Kenntnis der Voraussetzungen und des Verfahrens kann entscheidend für den Erfolg eines Bauvorhabens sein.