Rechtswidrige Grenzkontrollen 2022? Analyse VGH Bayern

Die Frage, ob die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich im Jahr 2022 rechtswidrig waren, hat nicht nur politische Wellen geschlagen, sondern auch die Gerichte intensiv beschäftigt. Im Zentrum der Debatte steht eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH Bayern), die weitreichende Implikationen für die Anwendung des Schengen-Rechts und die Praxis der Binnengrenzkontrollen in der Europäischen Union hat. Diese Kontrollen, die das Bild an der deutsch-österreichischen Grenze über Monate prägten, wurden von der Bundesregierung mit Verweis auf die Migrationslage und Sicherheitsbedenken gerechtfertigt.

Waren die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich 2022 rechtswidrig? Eine Analyse der VGH Bayern Entscheidung im Lichte des Schengen-Rechts

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Wichtigste Erkenntnisse

  • Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH Bayern) erklärte die deutschen Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich im Jahr 2022 für rechtswidrig.
  • Hauptgrund: Die von der Bundesregierung angeführten Begründungen waren nicht ausreichend, um die Wiedereinführung und Verlängerung der Kontrollen nach dem Schengener Grenzkodex zu rechtfertigen.
  • Es fehlte an einer konkreten, aktuellen und ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit, die spezifisch genug gewesen wäre.
  • Die jahrelange Verlängerung der Kontrollen widerspricht dem temporären Ausnahmecharakter der im Schengener Grenzkodex vorgesehenen Maßnahmen.
  • Auch das Verwaltungsgericht München bestätigte die Rechtswidrigkeit der Kontrollanordnung für den Zeitraum Mai bis November 2022.

Inhaltsverzeichnis

  1. Die Rechtmäßigkeit der Grenzkontrollen 2022: VGH Bayern und das Schengen-Recht
  2. Der rechtliche Rahmen: Schengener Grenzkodex
  3. Die Entscheidung des VGH Bayern und der Fall Salomon
  4. Weitere Gerichtsentscheidungen und Expertenmeinungen
  5. Zusammenfassung und Ausblick

Die Rechtmäßigkeit der Grenzkontrollen 2022: VGH Bayern und das Schengen-Recht

Die Frage, ob die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich im Jahr 2022 rechtswidrig waren, hat nicht nur politische Wellen geschlagen, sondern auch die Gerichte intensiv beschäftigt. Im Zentrum der Debatte steht eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH Bayern), die weitreichende Implikationen für die Anwendung des Schengen-Rechts und die Praxis der Binnengrenzkontrollen in der Europäischen Union hat. Diese Kontrollen, die das Bild an der deutsch-österreichischen Grenze über Monate prägten, wurden von der Bundesregierung mit Verweis auf die Migrationslage und Sicherheitsbedenken gerechtfertigt. Doch genügten diese Begründungen den strengen Anforderungen des europäischen Rechts? Die juristische Aufarbeitung dieser Frage bietet spannende Einblicke in das komplexe Verhältnis zwischen nationaler Sicherheitspolitik und der europäischen Freizügigkeit, ein Kernelement der EU. Für Dich als Jurastudent:in oder junge:r Jurist:in ist das Verständnis dieser Zusammenhänge essenziell, berührt es doch fundamentale Prinzipien des Unionsrechts und deren Durchsetzung auf nationaler Ebene. Die Analyse der Gerichtsentscheidungen, insbesondere des VGH Bayern, wirft ein Schlaglicht auf die Kriterien, die für die Rechtmäßigkeit solcher einschneidenden Maßnahmen erfüllt sein müssen, und verdeutlicht die Kontrollfunktion der Justiz gegenüber exekutivem Handeln im sensiblen Bereich der Grenzsicherung.

Der rechtliche Rahmen: Schengener Grenzkodex

Der rechtliche Rahmen für Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums ist klar definiert, aber seine Anwendung in der Praxis ist oft umstritten. Der Schengener Grenzkodex (Verordnung (EU) 2016/399) bildet die Grundlage für den Wegfall der Personenkontrollen an den Binnengrenzen der teilnehmenden Staaten. Dieses Abkommen ist eine der sichtbarsten und für die Bürger:innen spürbarsten Errungenschaften der europäischen Integration. Es ermöglicht freien Personenverkehr und soll Handel, Tourismus und das Zusammenwachsen Europas fördern. Allerdings sieht der Kodex auch Ausnahmeregelungen vor. Gemäß Artikel 25 ff. des Schengener Grenzkodex können Mitgliedstaaten vorübergehend wieder Kontrollen an ihren Binnengrenzen einführen, wenn eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit dies erfordert. Diese Wiedereinführung ist jedoch an strenge Voraussetzungen geknüpft. Sie muss als letztes Mittel (ultima ratio) dienen, zeitlich eng begrenzt sein und auf einer konkreten, aktuellen Gefahrenanalyse beruhen. Die Maßnahme muss zudem verhältnismäßig sein, das heißt, sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Abwehr der festgestellten Bedrohung unbedingt erforderlich ist. Entscheidend ist hierbei der temporäre Charakter: Der Schengener Grenzkodex ist darauf ausgelegt, dauerhafte oder systematisch verlängerte Kontrollen an den Binnengrenzen zu verhindern. Genau an diesem Punkt setzt die Kritik an den deutschen Grenzkontrollen zu Österreich an. Seit der Flüchtlingskrise 2015 hat Deutschland die Kontrollen an dieser Grenze immer wieder verlängert, oft mit Verweis auf anhaltende Migrationsbewegungen und Sicherheitsrisiken. Kritiker:innen argumentieren jedoch, dass eine solche dauerhafte Praxis dem Geist und Buchstaben des Schengen-Rechts widerspricht – siehe LTO und taz. Die Rechtsprechung, insbesondere die des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), hat wiederholt betont, dass die Ausnahmen eng auszulegen sind und die Begründungen für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen einer strengen Prüfung standhalten müssen. Eine allgemeine Bedrohungslage oder anhaltender Migrationsdruck allein reichen nach dieser Lesart nicht aus, um jahrelange Kontrollen zu rechtfertigen. Es bedarf vielmehr spezifischer, nachweisbarer Bedrohungen, die einen vorübergehenden Eingriff in die Freizügigkeit notwendig machen. Die Entscheidungen deutscher Verwaltungsgerichte im Jahr 2022 und danach müssen vor diesem europarechtlichen Hintergrund bewertet werden. Sie prüfen, ob die von der Bundesregierung angeführten Gründe die hohen Hürden des Schengener Grenzkodex tatsächlich überwinden konnten. Die Spannung zwischen dem politischen Willen zur Grenzsicherung und den rechtlichen Vorgaben des Unionsrechts wird hier besonders deutlich.

Die Entscheidung des VGH Bayern und der Fall Salomon

Im Zentrum der juristischen Auseinandersetzung um die Grenzkontrollen im Jahr 2022 steht die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH Bayern). Dieses Gericht kam zu dem Schluss, dass die im fraglichen Zeitraum durchgeführten Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze rechtswidrig waren – siehe LTO, Süddeutsche Zeitung und Migrationsrecht.net. Die Begründung des Gerichts stützt sich maßgeblich auf die Vorgaben des Schengener Grenzkodex. Der VGH Bayern rügte, dass die von der Bundesregierung vorgelegten Begründungen für die Wiedereinführung und wiederholte Verlängerung der Grenzkontrollen nicht ausreichend waren, um die Maßnahme zu rechtfertigen. Nach Auffassung des Gerichts fehlte es an einer konkreten, aktuellen und ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit, die spezifisch genug gewesen wäre, um einen derart tiefgreifenden Eingriff in die Personenfreizügigkeit zu legitimieren. Die pauschalen Verweise auf die allgemeine Migrationslage oder abstrakte Sicherheitsrisiken genügten den strengen Anforderungen des Unionsrechts nicht. Das Gericht betonte damit indirekt, dass die im Schengener Grenzkodex vorgesehenen Kontrollen nur als Ausnahmeinstrument für spezifische Gefahrensituationen gedacht sind und nicht zu einer dauerhaften Einrichtung werden dürfen – siehe LTO und Migrationsrecht.net. Ein konkreter Fall, der diese Entscheidung maßgeblich mit beeinflusste und illustriert, war die Klage des österreichischen Juristen Stefan Salomon. Er wurde im Juni 2022 auf einer Zugfahrt von Passau nach Frankfurt am Main einer Grenzkontrolle durch die deutsche Bundespolizei unterzogen. Salomon sah darin einen Verstoß gegen sein Recht auf Freizügigkeit und klagte gegen die Maßnahme. Sein Fall wurde zu einem Prüfstein für die Rechtmäßigkeit der gesamten Kontrollpraxis in diesem Zeitraum – siehe taz und Migrationsrecht.net. Der VGH Bayern gab Salomon in der Sache recht und erklärte nicht nur die spezifische Kontrolle, sondern implizit die zugrundeliegende Anordnung der Grenzkontrollen für den relevanten Zeitraum als rechtswidrig. Diese Entscheidung hat erhebliche Signalwirkung, da sie die Exekutive daran erinnert, dass auch Maßnahmen im Namen der Sicherheit einer strengen gerichtlichen Kontrolle unterliegen und die Grundfreiheiten der EU nicht ohne zwingende, nachweisbare Gründe eingeschränkt werden dürfen. Die Richter:innen machten deutlich, dass die bloße Fortführung einer seit Jahren bestehenden Praxis und die wiederholte Verlängerung von Kontrollanordnungen ohne eine Neubewertung und stichhaltige Begründung der aktuellen Notwendigkeit nicht mit dem Europarecht vereinbar ist.

Weitere Gerichtsentscheidungen und Expertenmeinungen

Die Entscheidung des VGH Bayern stand nicht isoliert da, sondern wurde durch weitere gerichtliche Bewertungen und die Reaktionen von Rechtsexpert:innen untermauert. Insbesondere das Münchener Verwaltungsgericht (oft als Verwaltungsgerichtshof bezeichnet, gemeint ist hier aber das Verwaltungsgericht München als Instanz unter dem VGH) befasste sich ebenfalls mit der Materie und bestätigte im Nachgang zu oder parallel zu der VGH-Entscheidung, dass die Anordnung der Grenzkontrollen zumindest für den Zeitraum vom 12. Mai bis zum 11. November 2022 rechtswidrig war – siehe taz. Diese Entscheidung bekräftigte die Argumentation, dass die Voraussetzungen des Schengener Grenzkodex für eine derart lange Aufrechterhaltung der Kontrollen nicht erfüllt waren. Sie verstärkte den juristischen Druck auf die Bundesregierung, ihre Praxis der Grenzkontrollen zu überdenken und an die strengen Vorgaben des Unionsrechts anzupassen. Die Gerichte stellten klar, dass die im Schengener Grenzkodex verankerte Freizügigkeit die Regel und Grenzkontrollen die eng auszulegende Ausnahme sein müssen. Die Beweislast für das Vorliegen einer ernsthaften Bedrohung, die solche Kontrollen rechtfertigt, liegt dabei klar bei dem Mitgliedstaat, der die Kontrollen einführt oder verlängert. Diese juristische Einschätzung fand auch bei Rechtsexpert:innen Widerhall. Beispielsweise argumentierte der Anwalt Matthias Tometten, der sich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt hat, dass die Praxis der Bundesregierung, die Kontrollen fortlaufend zu rechtfertigen, nicht mit den Vorgaben des EU-Rechts vereinbar sei – siehe LTO. Er und andere Kritiker:innen forderten die konsequente Beendigung der Binnengrenzkontrollen, da sie einen systemischen Verstoß gegen das Schengen-Recht darstellten. Sie wiesen darauf hin, dass die wiederholten Verlängerungen über Jahre hinweg den Ausnahmecharakter der Maßnahme untergraben und de facto zu einer permanenten Wiedereinführung von Grenzkontrollen geführt hätten, was dem Kernanliegen des Schengen-Abkommens widerspricht. Diese juristischen Analysen und Gerichtsentscheidungen werfen grundlegende Fragen über die Zukunft der Grenzkontrollen im Schengen-Raum auf. Sie betonen die dringende Notwendigkeit einer strengeren rechtlichen Überprüfung solcher Maßnahmen durch nationale und europäische Instanzen. Es zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen den Sicherheitsinteressen einzelner Mitgliedstaaten und dem gemeinsamen europäischen Projekt der Freizügigkeit. Die Urteile signalisieren, dass nationale Regierungen ihre Entscheidungen zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen nicht nur politisch, sondern vor allem auch juristisch solide begründen müssen, um vor Gericht Bestand zu haben. Die Debatte ist damit keineswegs abgeschlossen, sondern dürfte weiterhin die Politik und die Rechtsprechung beschäftigen, insbesondere vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen wie Migrationsbewegungen und grenzüberschreitender Kriminalität.

Zusammenfassung und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die juristische Bewertung der im Jahr 2022 an der deutsch-österreichischen Grenze durchgeführten Grenzkontrollen zu einem klaren Ergebnis geführt hat: Sie waren zumindest für wesentliche Zeiträume rechtswidrig. Sowohl der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) als auch das Münchener Verwaltungsgericht kamen zu dem Schluss, dass die Anordnung und Durchführung dieser Kontrollen den strengen Anforderungen des Schengener Grenzkodex nicht genügten – siehe LTO, Migrationsrecht.net und taz. Der zentrale Kritikpunkt der Gerichte war die unzureichende Begründung für die Notwendigkeit der Maßnahmen. Die von der Bundesregierung angeführten Gründe, insbesondere Verweise auf die allgemeine Migrationslage und abstrakte Sicherheitsbedenken, wurden als nicht ausreichend spezifisch und konkret bewertet, um eine derart gravierende Einschränkung der im Unionsrecht verankerten Freizügigkeit zu rechtfertigen. Der Schengener Grenzkodex erlaubt die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen nur als vorübergehende Ausnahme in Fällen einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit. Die deutsche Praxis der wiederholten, über Jahre andauernden Verlängerung der Kontrollen wurde von den Gerichten als unvereinbar mit diesem Ausnahmecharakter und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angesehen. Der Fall des österreichischen Juristen Stefan Salomon, dessen Kontrolle im Juni 2022 den Anstoß für die Entscheidung des VGH Bayern gab, illustriert die konkreten Auswirkungen dieser Praxis auf die Bürger:innen der EU. Die Urteile unterstreichen die Bedeutung einer strikten gerichtlichen Kontrolle exekutiven Handelns, insbesondere wenn Grundfreiheiten auf dem Spiel stehen. Sie senden ein klares Signal an die Politik, dass die Voraussetzungen des Unionsrechts für die Einschränkung der Freizügigkeit ernst genommen und detailliert nachgewiesen werden müssen. Die Entscheidungen haben die Debatte über das richtige Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit im Schengen-Raum neu befeuert und betonen die Notwendigkeit, die Regeln des Schengener Grenzkodex konsequent anzuwenden, um das Kernversprechen eines Europas ohne Binnengrenzen zu wahren. Für Dich als angehende:n Jurist:in verdeutlicht dieser Fall exemplarisch die Dynamik zwischen nationalem Recht, Unionsrecht und der Rolle der Gerichte bei der Auslegung und Durchsetzung fundamentaler Rechtsprinzipien.

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